Das Nervensystem des Menschen hat im Laufe seiner evolutionären Entwicklung ein
eigenes Gefahren-Warnsystem entwickelt.
Unter Beteiligung verschiedener Hirnregionen kann man sich dieses System als Gefäß,
als eine Art ‘threat bucket’ (siehe Video Dr. Cobb ‘strength and the threat bucket’)
vorstellen, das Bedrohungen für den Körper registriert und speichert. Aus Sicht des
Nervensystems sind hiermit ‘blinde Flecken’, also Informationslöcher aus Um- und
Innenwelt gemeint. Unzureichende visuelle, vestibuläre und propriozeptive Fähigkeiten
sind hierbei ‘Handicaps’ die konstante Stressoren darstellen.
Hinzu kommen Informationen aus dem ‘Gefahrenfilter’ des Nervensystems, der alle
Aktionen des Körpers auf ihr Gefahrenpotential hin analysiert. Je mehr (bewusste und
unbewusste) Bedrohungen registriert werden desto weniger Ressourcen verbleiben um
weitere Stressoren abzupuffern.
Die beschriebenen Probleme und Bedrohungen füllen in unserer Analogie das Gefäß
(threat bucket) bis zu einem gewissen Grad. Die Überlaufgefahr des Gefäßes steigt weiter,
wenn das Gehirn den Körper nur unzureichend in seinen Bewegungen kontrollieren kann
(ein Beispiel wäre schwache reflexive Kontrolle des Knies). Wenn nun weitere
Bedrohungen oder Stressoren (physiologischer oder biomechanischer Natur)
hinzukommen, wie dies beispielsweise beim Laufen oder beim Kraftraining der Fall ist,
kann dies das Gefäß über dessen Rand hinaus füllen. Wenn diese Grenze erreicht wird
läuft das Gefäß über und das Gehirn reagiert mit einem Alarmsignal: Schmerz!
Je höher der ‘Wasserstand’ im Gefäß steigt, desto größer werden die Leistungseinbußen
bis schließlich die ersten Schmerzsignale auftreten.
Diese Analogie verdeutlicht wie beispielsweise ein „Läuferknie“ auftreten kann: Wenn das
Gehirn nur unzureichend mit sensorischen Informationen versorgt wird, werden die für die
Bewegung relevanten ‘Körperkarten’ im Gehirn unscharf, was sich wiederum negativ auf
die reflexive Kniekontrolle auswirkt. Hierdurch steigt das Risiko, dass der mechanische
Stress im Laufe der Zeit mehr Schmerzen verursacht. Dies ist der Grund dafür warum
mechanische Manipulationen wie Kräftigung, Dehnung oder Blackrolling selten Wirkung
bei chronischen Problemen wie z.B. einem ‘Läuferknie’ zeigen: Durch all diese
Maßnahmen lernt das Gehirn nicht das Knie in der Bewegungsschleife zu kontrollieren.
Den meisten Menschen fällt diese Kontrollschwäche selten auf, da sie natürlich in der
Lage sind ihr Knie willkürlich stabilisieren und ansteuern zu können. Was jedoch nur die
wenigsten können ist alle Muskeln des Körpers im perfekten Rhythmus ein- und
auszuschalten um optimale und somit schmerzfreie Kraftübertragung und
Bewegungseffizienz zu gewährleisten.
Es ist also durchaus denkbar (und in der Mehrzahl der Fälle Fakt), dass Schmerz nicht
durch rein mechanischen Stress ausgelöst wird, sondern durch Überlaufen des ‘Gefäßes’
des Alarmsystems. Dies bedeutet, dass chronische Schmerzen zum Beispiel durch
schlechte Augen- und Verstibularfunktionen auftreten können, weil diese das Gefäß konstant füllen. Dementsprechend muss man dies auch in der Rehabilitation und im
anschließenden Leistungsaufbau berücksichtigen. Die Ursachen für Schmerzen, die in
vielen Fällen neuronalen Ursprungs sind, müssen in erster Linie behoben und therapiert
werden – ganz nach Karel Lewit “He who treats the sight of pain is lost..”
Da das Gehirn ständig versucht Muster zu erkennen um somit (motorische) Aktionen
vorauszuplanen, können nur Maßnahmen Linderung und Leistungssteigerung bringen, die
den richtigen Input zum Gehirn liefern damit dieses lernt den Input zu interpretieren und
den motorischen Bewegungsoutput dementsprechend zu dosieren um den Körper sicher
durch die Welt zu navigieren.
Weiterführende Quellen zur Schmerzneuromatrix:
• Melzack, R. (1999). From the gate to the neuromatrix. Pain, 82, S121-S126.
• Melzack, R. (2001). Pain and the neuromatrix in the brain. Journal of dental
education, 65(12), 1378-1382.
• Moseley, L. et. al (2016). Schmerzen verstehen (3.Auflage). Berlin. Springer.