Für viele Menschen ist Sport ein fester Bestandteil des täglichen Lebens. Während Kraft-und Ausdauertraining mittlerweile zu den Grundlagen gehören, vergessen viele Menschen dabei das Gleichgewicht. Das scheint auf den ersten Blick etwas banal, ist aber essenziell für die Fitness und reduziert das Risiko von Verletzungen, beispielsweise durch Stürze. Gesteuert wird das Gleichgewicht von dem vestibulären System. Was das ist, wie es funktioniert und wie Du es stärken kannst, erfährst Du in diesem Artikel.
Was ist das vestibuläre System?
Der Gleichgewichtssinn besteht aus der visuellen, der vestibulären und der propriozeptiven Wahrnehmung. Dabei bildet das vestibuläre System die Zentrale des Gleichgewichtssinns. Es ist verantwortlich für die Verarbeitung von Informationen über die Position und Bewegung des eigenen Körpers im Raum sowie die Auswirkungen der Schwerkraft auf die Lage des Körpers im Raum. Der Begriff vestibulär kommt von dem lateinischen Wort vestibulum und wird in der Anatomie zur Bezeichnung einer Eingangserweiterung zu einem Organhohlraum
verwendet. Hier bezieht sich vestibulär auf den Vorhof des Gehör-Organs.
Das vestibuläre System arbeitet mit dem visuellen System sowie Sensoren aus Muskeln,
Sehnen und Gelenken zusammen. Diese sind nicht nur Quelle der Informationen über die
Position des Körpers im Raum, sondern gleichzeitig auch Adressat. Die Verschaltung mit
den Augenmuskeln ist besonders schnell: Der Vestibulookuläre Reflex ermöglicht auch
bei Körperbewegung ein stabiles Bild.
Wie ist der Vestibularapparat aufgebaut?
Als Teil des Ohres ist das vestibuläre System jeweils einmal auf beiden Seiten des Kopfes
vorhanden. Es befindet sich in einem komplexen Hohlraum – dem Innenohr. Der
Vestibularapparat selbst besteht aus fünf Bestandteilen, nämlich aus drei Bogengängen
und zwei Vorhofsäckchen, die auch als Makulaorgane bezeichnet werden. Während die
Bogengänge Drehbewegungen wie Kopfnicken detektieren, sind die Makulaorgane für das
Erkennen lineare Beschleunigungen wie Aufzugfahren zuständig.
Die Bogengänge
Die drei Bogengänge verlaufen jeweils horizontal, schräg nach vorn und schräg nach
hinten. Sie sind von Membranen umgeben und enthalten eine Flüssigkeit – die
Endolymphe. Jeder Bogengang ist mit einer Auswölbung, der Ampulle, ausgestattet.
Darin sitzen Haarzellen, die als Sinneszellen des Vestibularorgans agieren.
Jede dieser Haarzellen-Fortsätze, die als Cilien bezeichnet werden, ragen in eine
gallertartige Membran. Diese wird auch Cupula genannt und ist verwachsen mit der Wand
des Bogengangs. Die Haarzellen einer Ampulle werden entweder gemeinsam erregt oder
gehemmt, da alle in gleicher Richtung angeordnet sind.
Bei einer Bewegung des Kopfes nach links bewegt sich die Wand des Bogengangs mit.
Die im Bogengang enthaltenen Endolymphe fließt nicht sofort mit. Durch diese
Relativbewegung wird Druck auf die Cupula ausgeübt. Dadurch verbiegen sich die Cilien
der Haarzellen je nach Richtung der Bewegung, entweder gehemmt oder erregt.
Die Makulaorgane
Die Makulaorgane oder Vorhofsäckchen liegen zwischen den Bogengängen und der
Cochlea. Das kleine Vorhofsäckchen (Sacculus) befindet sich senkrecht im Schädel und
reagiert auf vertikale Beschleunigungen, zum Beispiel beim Aufzugfahren. Das große
Vorhofsäckchen (Utriculus) dagegen spricht auf horizontale Beschleunigungen an, also
auf Bewegungen vorwärts, rückwärts oder seitwärts.
Die Säckchen sind ebenfalls mit Haarsinneszellen und den dazugehörigen Cilien
ausgestattet. Die Cilien ragen in die Otolithenmembran, eine Gallert-Masse. In dieser sind
kleinste Kristalle aus Kalziumkarbonat enthalten, die auch als Otolithen bezeichnet
werden.
Wird eine Person einer Beschleunigung ausgesetzt, bewegt sich durch die Schwerkraft
und das Gewicht der Otolithen die Otolithenmembran. Dies erregt die Cilien und somit die
Haarsinneszellen des Utriculus.
Wie funktioniert das vestibuläre System?
Der Prozess nach der Erregung der Haarsinneszellen ist bei den Bogengängen und den
Makulaorganen ähnlich: Der durch das Biegen der Cilien verursachte mechanische Reiz
wird in ein elektrisches Signal umgewandelt. Die Cilien sind an den Enden mit
Ionenkanälen ausgestattet, die in den Endolymphraum hineinragen.
Die Ionenkanäle sind, bei unbewegtem Kopf, teilweise geöffnet und ermöglichen den
ausgeglichenen Fluss positiv geladener Kaliumionen aus der Endolymphe in die
Haarsinneszellen. Abhängig von der Richtung, in welche sich die Cilien biegen, öffnen
sich mehr Kanäle, sodass mehr Kaliumionen in die Zelle gelangen. Durch die
Depolarisation wird die Zelle stimuliert.
Sind die Ionenkanäle hingegen geschlossen, fließen weniger Kaliumionen in die Zelle und
es kommt zu einer Hyperpolarisation, die hemmend wirkt. Somit wird das mechanische
Signal in ein neurochemisches Signal umgewandelt.
Wie gelangen die Signale in die Muskelzellen?
Kommt es zur Stimulation einer Zelle, schüttet diese vermehrt den Neurotransmitter
Glutamat aus. Dadurch gelangen Informationen über eine bestimmte Bewegung des
Körpers im Raum zur jeweils nächsten Nervenzelle, bis sie im Gehirn ankommt.
Die Nervenfasern der Makulaorgane und der Bogengänge verbinden sich zum
Gleichgewichtsnerv. Dieser wiederum bildet zusammen mit dem Hörnerv den VIII.
Hirnnerv, oder nervus vestibulo-cochlearis.
Die Fasern aus dem Vestibularapparat ziehen weiter in den Hirnstamm, wo sie
Nervenzellen im Kleinhirn kontaktieren. Hier laufen die Informationen aus den
Makulaorganen und den Bogengängen zusammen und werden durch Signale der Augen
und des sensorischen Systems ergänzt. Diese Informationen werden dann an die
Muskulatur der Augen, Arme und Beine weitergegeben, sodass diese sich an die
Bewegung anpassen kann, um den Körper stabil zu halten.
Warum ist das vestibuläre System so wichtig?
Ein optimal funktionierendes vestibuläres System bildet die Grundlage vieler motorischen
Fertigkeiten und sorgt dafür, dass wir aufrecht stehen und gehen und dabei die Balance
halten können. Unser Gleichgewichtssinn ermöglicht es uns, Dysbalancen auszugleichen
und unseren Körperschwerpunkt zu kontrollieren.
Eine Störung oder Schädigung des vestibulären Systems führt zu einer verschlechterten
Funktion des Gleichgewichtssinns. Das Gehirn kann sich jedoch an solche Schäden
gewöhnen und sie ausgleichen, um das Gleichgewicht wieder zu stabilisieren. Bei älteren
Menschen funktioniert dieser Ausgleich der Schäden allerdings nicht mehr so gut und
führt vermehrt zu Stürzen.
Deshalb ist es umso wichtiger, den Gleichgewichtssinn zu stärken und die reibungslose
Zusammenarbeit von Gehirn und Muskeln zu gewährleisten. Dabei können Balance-
Übungen helfen.
Übungen zur Stärkung Deines Gleichgewichtssinns
Balance-Übungen sind optimal, um Rückenschmerzen vorzubeugen und das
Verletzungsrisiko, beispielsweise beim Sport, zu verringern. Zudem fördern sie die
Tiefenmuskulatur, verbessern die Körperhaltung und stabilisieren die Gelenke.
Walking Lunges
Stelle Deine Beine hüftbreit auseinander und mache einen großen Schritt nach vorn.
Senke nun Deinen Oberkörper, indem Du Deine Beine an den Knien beugst. Dein vorderer
Oberschenkel ist parallel zum Boden. Achte darauf, dass das vordere Knie nicht über die
Zehen hinausragt.
Halte die Position für ein paar Sekunden. Drücke Dich dann mit dem vorderen Fuß wieder
nach oben und ziehe das hintere Bein nach vorn. Bei dieser Übung wird der Kopf in
verschiedene Richtungen beschleunigt, wodurch das vestibuläre System aktiviert wird.
Der vestibulookuläre Reflex
Die Ausführung des vestibulookuläre Reflex (VOR) dient einerseits zur Überprüfung der
Zusammenarbeit des vestibulären und visuellen Systems. Andererseits dient sie als
Basisübung, die Dir keine Probleme bereiten sollten.
Für die Ausführung wählst Du zunächst einen Fixpunkt, beispielsweise an der Wand.
Dieser sollte auf Augenhöhe liegen. Den Punkt hältst Du während der Übung fokussiert.
Bewege Deinen Kopf nun mehrmals nach rechts, unten, oben und links. Je nach Richtung
der Bewegung reagiert der entsprechende Bogengang. Halte die Augen und den Rest des
Körpers während der Übung stabil.
Solltest Du schwanken, ist das möglicherweise ein Zeichen für eine schlechte Stabilität
des Kopfes oder eine mangelhafte Stützmotorik. Das könnte wiederum auf eine gestörte
Funktion des vestibulären Systems hinweisen.
Der Tandemgang
Bei dem Tandemgang führst Du ebenfalls den VOR aus, jedoch auf dynamische und
aktive Weise. Stelle einen Fuß direkt vor den anderen. In dieser Tandemposition führst Du
zuerst einen horizontalen VOR, also ein Kopfschütteln, aus. Hier werden die beiden
horizontalen Bogengänge aktiviert.
Führe dann einen vertikalen VOR (Kopfnicken) aus. Nun werden abwechselnd die beiden
anterioren und posterioren Bogengänge aktiviert. Gehe jetzt im Tandemgang vorwärts,
während Du den horizontalen und vertikalen VOR ausführst. Führe den VOR während des
Gangs gleichmäßig und konstant aus und unterbreche ihn nicht.
Der Gleichgewichtskompass
Starte im aufrechten Stand und stelle Dir vor, Du stehst in der Mitte eines Kompasses. Um
Dich herum liegen acht Linien, die nach vorne, hinten, links, rechts, hinten links, vorne
links, hinten rechts und vorne rechts verlaufen.
Hebe ein Bein leicht an und zeichne nacheinander alle acht Linien nach. Halte das Bein
mindestens eine Sekunde, bevor Du es wieder zurück zur Mitte bringst. Wechsle das Bein
nach 30 bis 60 Sekunden. Versuche die Übung insgesamt etwa 15 Minuten lang
auszuführen. Um die Übung etwas zu erschweren, kannst Du die Linien verlängern, um
tiefer in die Knie zu gehen. Noch schwieriger wird es, wenn Du die Augen schließt.
Neben diesen Übungen eignen sich auch besonders Yoga, Pilates, Surfen und Stand-Up-
Paddling zum Trainieren Deines Gleichgewichtssinns.
Fazit
Ein gesundes vestibuläres System ist das A und O – und das nicht nur beim Sport. Auch
bei alltäglichen Aktivitäten wie Stehen, Sitzen oder Gehen brauchen wir ein gutes
Gleichgewicht, um den Körper aufrecht und stabil zu halten. Daher ist es wichtig, den
Gleichgewichtssinn zu trainieren, um die Zusammenarbeit von Gehirn und Muskeln zu
fördern und dadurch Haltungsschäden und Verletzungen vorzubeugen.