Was deine Zunge mit deiner Maximalkraft zu tun hat?!

Zunge-und-Maximalkraft
Als Neuroathletiktrainer beschäftigen wir uns mit den verschiedenen Inputs auf das menschliche Gehirn.

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Als Neuroathletiktrainer beschäftigen wir uns mit den verschiedenen Inputs auf das
menschliche Gehirn. Gemeint sind damit sämtliche sensorische Informationen, die aus der
Um- und Innenwelt über die Körpersensoren ins Gehirn gelangen. Wie bekannt, hat
jeglicher Input mit einhergehender Interpretation im Gehirn das Potential den Output zu
ändern. Wenn jedoch die Datenqualität eines Inputsensors schlecht ist, dann wird folglich
auch die Interpretation der Daten im jeweiligen Hirnareal leiden. Was wir dann machen ist
nichts anderes als diesen Sensor wieder ins System zu integrieren und zu kalibrieren.
Soweit zur Theorie. In der Realität handelt es sich natürlich um biologische Strukturen und
die Sachlage stellt sich weit komplexer dar.


Pilotstudie wirft Fragen auf
Die (Pilot-)Studie “The acute effect of the tongue position in the mouth on knee isokinetic
test performance: a highly surprising pilot study“ zeigt jedoch exemplarisch auf
beeindruckende Weise die Macht des Inputs in Bezug auf den Output. Zungenposition und
Kraftperformance? Was sich erstmal verwirrend anhören mag, hat einen rationalen
Hintergrund. Doch der Reihe nach: Verglichen wurde die Kniebeugekraft bei 2 Gruppen.
Die Kontrollgruppe sollte die Kniebeugung am Isokineten ohne weitere Intervention
ausführen, die zweite Gruppe tat es ihr inklusive einer kleinen Modifikation gleich: Alle
Probanden wurden gebeten, während des Muskeltests Ihre Zunge nach oben gegen den
Gaumen zu drücken. Siehe da: In allen leistungsrelevanten Parametern waren erhebliche
Zuwächse zu verzeichnen. Die Beugerkraft erhöhte sich im Mittel um über 30%.
Selbstverständlich haben wir es hier zunächst mit einer Pilotstudie zu tun, weitere wichtige
Forschung steht also noch an. Nichtsdestotrotz sollte man sich über mögliche
Konsequenzen im Klaren sein: Wenn alleine durch die Zungenposition 30%(!)
Kraftzuwachs generierbar ist, wie ernst kann man dann die Krafttrainingsstudien der
Vergangenheit nehmen? Jede Studie, die nicht die exakte Zungenposition im Protokoll
vorgibt, könnte demnach beeinflussbar gewesen sein.

Aus neurologischer Sichtweise ergeben die Ergebnisse Sinn: Damit die Zunge in ihrer
natürlichen Position (komplette Zunge liegt am Gaumen an) gehalten wird, müssen im
Hirnstamm (Medulla Oblongata) nicht wenige Kerne aktiviert und deren Signale über die
Hirnnerven weiter an die Zungenmuskeln gesendet werden. Die Zunge taugt deshalb als
gutes Aktivierungsorgan, weil sie durch CN X und XII gleich von 2 Hirnnerven motorisch
innerviert wird und Zungenbewegungen somit quasi die gesamte Medulla aktivieren
können. Dazu innervieren weitere Teile des Hirnstamms in Pons und Medulla die Zunge
sensorisch. Betrachtet man weiterhin den motorischen Homunkulus, so fällt an diesem
komisch aussehenden Kauz auf, dass er riesige Hände, Lippen und eine überdimensional
große Zunge hat. Für diese vergrößert dargestellten Körperteile wird also entsprechend
viel kortikaler Speicherplatz benötigt. Bewegung der Zunge kann demnach große Teile des
motorischen Kortex aktivieren. Hirnstamm und Kortex gleichzeitig! Wow! Auch der
Wirkmechanismus weshalb die Flexoren in der Studie so stark geworden sind, könnte sich
in der Medulla verstecken: Diese ist als Teil des Hirnstamms primär Tonusgeber für
Beugemuskeln. Wenn jetzt aus allen beschriebenen Hirnnerven, die die
Zungenmuskulatur kontrollieren, gefeuert wird, so werden die Flexormuskeln mit gebahnt.

Ach ja, und außerdem führt eine aktive Zungenposition zu einer mechanischen
Stabilisierung des Kopfes und der HWS da die drei Zungenmuskeln in direkter Verbindung
zur Hals- und Nackenmuskulatur stehen. Superwichtig bei Sprints und Sprüngen um eine
aktive Wirbelsäulenstabilität zu gewährleisten und damit Schutzreflexaktivität zu
reduzieren! Wenn man alles zusammen betrachtet, ist die Zunge also ein mächtiges
Werkzeug, den motorischen Output zu modifizieren.

Ein kleines Beispiel zum Modell Input-Interpretation-Output
Wir kommen wieder auf das Modell Input-Interpretation-Output zurück: Wenn schon die
Zunge einen solch enormen Effekt auf den Output haben kann, wie sieht das Ganze in
verschiedenen Augenpositionen aus? Ihr ahnt es: JEDESMAL wenn die Augen bewegt
werden, ändert sich potentiell der Kraftoutput! Noch so eine im Studiendesign nicht
kontrollierte (scheinbare) Kleinigkeit. Probiert es selbst aus: Stellt euch aufrecht hin,
bewegt die Ferse zum Gesäß und bittet Jemanden die Kraft eurer Kniebeuger zu testen.
Macht diesen Krafttest mit neutraler Augenposition, nehmt im zweiten Anlauf die Augen
(aber nicht den Kopf) nach unten und im dritten Anlauf die Augen nach oben. Dann
probiert das gleiche Spielchen mit komplett an den Gaumen gedrückter Zunge aus. Bei
wem die Oberschenkelrückseite quasi ansatzlos anfängt zu krampfen, der kann mit diesen
Informationen viel anfangen, denn ein krampfender Muskel ist wahrscheinlich nicht gerade
der stärkste Muskel im Körper. Der Muskel kann und sollte folglich trainiert werden. Mit
Zungen- und Augenposition als zusätzlichen Inputverstärkern.


Fazit
Es sieht danach aus, als sei die Kraftperformance sehr dynamisch und von mehr abhängig
als bloßer Hypertrophie und Faserverteilung. Wir sollten bei der Interpretation von Studien
vorsichtig sein, solange das Studiendesign nicht glasklar die verschiedenen Inputs
kontrolliert. Wir werden sehen was die Zukunft bringt.


Quelle Pilotstudie
Di Vico, R., Ardigò, L. P., Salernitano, G., Chamari, K., & Padulo, J. (2013). The acute
effect of the tongue position in the mouth on knee isokinetic test performance: a highly
surprising pilot study. Muscles, Ligaments and Tendons Journal, 3(4), 318–323.

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